verknallt in Schrift und Buchstaben

Kategorie: Do It Yourself (Seite 1 von 3)

Wenn weder Drucker noch Computer zur Hand sind, müssen Textschaffende zur Selbsthilfe greifen. Dann entstehen mit allerlei Hilfsmitteln ungenormte, kreative Ergebnisse, denen man ihren manuellen Ursprung ansehen kann.

20.10.2025

Wohl jeder hat im Hinblick auf zeitgenössische Konsumgepflogenheiten und Produktlebenszyklen schon mal die Begriffe »Upcycling« und »geplante Obsoles­­zenz« gehört. Letzteres bezieht sich zwar meist auf technische Geräte und bezeichnet deren vorprogrammierten Verschleiß, aber auch in der Modewelt ist dieses Prinzip schon länger anzutreffen:

»Ein weiteres frühes Beispiel für eine künstliche Veralterung ist die hauchdünne und extrem reißfeste Feinstrumpfhose aus dem damaligen Wundergewebe Nylon. DuPont brachte im Jahre 1940 die ersten Nylonstrümpfe auf den Markt. Als schließlich jede Frau Nylonstrümpfe ihr eigen nennen durfte, brachen die Umsätze rapide ein. Daher mussten die Entwickler eine noch dünnere Strumpfhose mit begrenzter Haltbarkeit konzipieren.«

BSZ (Bayerische Staatszeitung)

Es stellt sich ohnehin die Frage, ob nicht Mode an sich ein Konzept ist, das die vorzeitige »Entsorgung« an sich noch tadelloser Kleidungsstücke forciert – denn wer, der es sich leisten kann, läuft schon gerne in einem einst trendgerechten Outfit aus dem letzten oder vorletzten Jahr umher, das inzwischen als überholt oder unmodern gilt? Nicht ohne Grund türmen sich auf katastrophal schadstoffbelasteten Müllhalden rund um den Globus groteske Mengen aus Fabrikationsresten und zu Müll deklarierten Klamotten unserer mehr als fragwürdigen Fast-Fashion-Kultur.

Das typographische Montagsbonbon von heute belegt, dass es schon vor Jahrzehnten Gewerbetreibende gab, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Lebenszeit von Kleidungsstücken zu verlängern und damit quasi »Upcycling« zu betreiben, noch ehe dieses Wort geboren wurde. Entdeckt habe ich es im November 2018 auf einer Städtereise nach Göttingen. Zur Gründung und dem geschäftlichen Schicksal des beworbenen Betriebes – von dem nur noch diese Beschilderung verblieben ist – konnte ich leider keine näheren Details ermitteln.

Das Schild ist definitiv von Hand gefertigt, was man aus seinem zu vermutenden Alter sowie den Abweichungen bei mehrfach vorkommenden Buchstaben schlussfolgern kann. Die oberen vier Zeilen mit dem Dienstleistungsangebot passen für mein Auge stimmig zu den letzten beiden Zeilen mit Name und Stockwerk des Ladenbesitzers. Wie so oft habe ich im Spektrum der aktuell käuflichen Schriften nach möglichst ähnlichen Vertretern gesucht. Meine Favoriten für die Schreibschrift sind die »Koozie Script« von Dathan Boardman und Conrad Garner (Good Gravy Type Co.) und die »Brillian Greek Condensed Light« von Dusko Joksimovic (Fontex). Bei der ersten sind z.B. das U, r und F ähnlicher, bei der zweiten das b und das e. Erste Wahl für die gebrochene Schrift unten ist die »Thannhaeuser Fraktur«, die bis auf das T ziemlich nah an die Vorlage herankommt (siehe unteres Bild). Insbesondere der Querbalken im M und das konkave rechte »Bein« des M sind hier besondere Formmerkmale.

Und während ich diesen Beitrag verfasse, bin ich noch einmal in den schönen und geschichtsträchtigen Städten Freiburg und Basel zu Gast und bin sicher, dass ich auch von dort wieder reichlich Motive zu meinem Herzensthema mitbringen werde. 🤓 🔠 🎩 👒

04.08.2025

Das heutige typographische Montagsbonbon stammt aus meiner Schnappschuss-Ausbeute während eines Aufenthaltes in Stralsund im Juni diesen Jahres. Besonders gefiel mir an dem Schild die spürbar »loriot-eske« Formulierung »Für die Dame, für den Herren, für das Kind«. 😄 



Die Schriftart, in der die zweifarbigen Texte auf dem rustikalen Holzschild aufgebracht sind (vermutlich über Stempel oder Schablonen), mag dem Einen oder Anderen irgendwie bekannt vorkommen. Ihre Ursprünge liegen über 100 Jahre zurück und doch ist sie in all ihren Varianten bis heute eine beliebte Wahl, vor allem für Anwendungen mit leicht nostalgischem, historischen oder traditionsbehaftetem Kontext wie Tabakwaren, Flohmärkte, Trödelläden, Spirituosen, Museen, Antiquitäten o.ä.



Die »Originalversion« der Schrift mit dem Namen »Bernhard Antiqua Schmalfette« wurde vom Schriftgestalter Lucian Bernhard 1911/12 als einer von mehreren Schriftschnitten der »Bernhard Antiqua« für die deutsche Schriftgiesserei Flinsch entworfen, welche 1916 vom Konkurrenten Bauer aufgekauft wurde. In den folgenden Jahrzehnten entstehen – auch unter verschiedenen Namen wie Bernhard Antique, Bernhard Bold Condensed oder Bernard Condensed (mit und ohne h) und von mehreren Schriftenhäusern, u.a. Elsner+Flake, Letraset, Linotype/Adobe/Monotype, Scangraphic oder URW – zahlreiche Neuschnitte und Varianten dieser Schriftart, die jedoch alle deren Ursprung in den organischen Formen des Jugendstils wahren. Sie eignet sich aufgrund ihrer Schlankheit und Eigenständigkeit gut für den großformatigen Einsatz auf eng begrenzten Gestaltungsflächen, wie Album-/Buchcover, Werbeplakate oder eben Firmenschilder.



Unter dem Namen Bernard MT ist die Variante, die auch für das fotografierte Schild genutzt wurde, seit 1993 im lizenzierten Schriften-Set des Microsoft Office Pakets enthalten. Sie unterscheidet sich vom Original vornehmlich durch ihre deutlich weniger gerundeten Formen und eckigeren Serifen. Was noch auffällt, ist, dass einige der Großbuchstaben am Wortanfang von den Urheber*innen des Schildes »zu groß« angelegt sind (bei »Für« z.B. ist die Versalhöhe korrekt, bei »Dame«/»Herren«/»Kind« deutlich erhöht). Nennen wir es künstlerische Freiheit … 😉 🤓 🔠 



Kurzportrait von Lucian Bernhard (PDF) beim Klingspor-Museum: 


➡️ https://www.klingspor-museum.de/KlingsporKuenstler/Schriftdesigner/Bernhard/LucianBernhard.pdf

Anwendungsbeispiele der Schrift auf der Website »Fonts In Use«:
➡️ https://fontsinuse.com/typefaces/42235/bernhard-antique

11.07.2025

Acht Motive liegen noch in meinem Ordner mit typographischen Fundstücken aus Barcelona. Es wird allerdings nicht einfacher, aus den verbliebenen Bildern sinnvolle Cluster zu bilden, die ich turnusmäßig hier posten kann. Zweien der Fotos jedoch könnte man die Überschrift »Kultur« zuweisen, somit soll dies das Motto des heutigen Beitrags sein.



Das erste Motiv knipste ich am berühmten Altstadtboulevard »La Rambla«, hinter der Jalousie verbirgt sich das Geschäft eines Notenhändlers. Die Paillettenschrift im oberen Teil des Fotos ist sehr wahrscheinlich eine Eigenkreation. Die handgemalten Buchstaben der Schrift darunter erinnern vage an »softe« Serifenschriften aus den 1970er- und 1980er-Jahren, aber einen 100%igen Treffer bei der Identifikation konnte ich nicht landen – vermutlich war auch hier bei der Erstellung einiges an typographischer Fantasie im Spiel.



Das zweite Motiv entdeckte ich an der belebten Straße »Carrer Gran de Gràcia«, hoch über den Köpfen der Passanten: eine alte Inschrift, vermutlich u.a. für eine einst dort ansässige öffentliche Bibliothek (BIBLIOTECA PUBLICA). Sie wirkt, als sei sie einst komplett unter Putz versteckt worden, der dann jedoch im Laufe der Zeit wieder abblätterte. Der zweite noch halbwegs lesbare Begriff oben (PENSIONES DOTES [?]) wird übersetzt mit »Mitgiftrenten«. Eine interessante Kombination – und daher ist es wohl angebracht, anzunehmen, dass diese beiden Services auf getrennten Etagen untergebracht waren … 😉 🤓 🔠

04.07.2025

Wenn die Hitze drückt, brauchen Körper und Geist erstens genug Flüssigkeit und Elektrolyte und zweitens eine reichliche Zufuhr von Nervennahrung wie Obst, Schokolade, Gebäck oder Konfekt, die gut schmeckt, die Endorphinausschüttung anregt und im Idealfall etwas kühlt. Deshalb steht das Bilderbündel, das ich heute als gesammelte typographische Fundstücke der Woche aus meinem »Barcelona-Bestand« poste, unter dem Motto »Leckereien«. Im Angebot sind Süßwaren (1), Confiserie (2), ein feines Brunch (3) und Tapas (4).



Die meisten Schriften in den Bildern sind wieder garantiert handgefertigt, insbesondere bei Bild (3) und basieren höchstens teilweise auf kommerziellen oder historischen Vorlagen, ihre Bestimmung ist daher sehr diffizil. 



Die augenfälligsten Merkmale bei der Schrift auf dem Vorhang der Bonboneria (1) sind der spitze Winkel beim M und der gerade Abstrich des R – eine kommerzielle Schrift mit beiden Merkmalen gleichzeitig konnte ich nirgends finden. Beim oberen Schriftzug auf demselben Bild fallen insbesondere die schlanken Proportionen, der Winkel in den Serifen beim E und der große »Bauch« des R auf, aber auch hier kam ich bei einer Identifikation nicht weit. 



Das Metallrelief bei der Pastisseria (2) zeigt mal wieder eine Schrift mit Urspüngen im Art Déco oder den beiden Jahrzehnten danach. Hier böte sich der Font »ITC Juanita« als Vorlage an: 



➡️ https://www.myfonts.com/de/collections/juanita-font-itc

Im Foto mit den Tapas (4) fallen die kurzen Unter- und Oberlängen, der gerade Abstrich des y und das abstrichlose u auf, ein als Vorlage hätte z.B. die Schrift »HK Nova Semi Bold« gedient haben können:



➡️ https://www.myfonts.com/de/products/semi-bold-hk-nova-590740

Aber jetzt gibt’s erstmal ein Eis! 🤓 🔠 🍧

23.06.2025

Das typographische Montagsbonbon heute ist ein schönes Beispiel dafür, wie grafische Elemente, die nicht immer bzw. nicht »geplant« auf einer Gestaltungsfläche vorhanden sind, zufällig und zeitweilig das ursprüngliche, menschengemachte Design auf interessante Weise verändern – vielleicht sogar verschönern – können.



Auch dieses Beispiel stammt wieder aus Barcelona. Im strahlenden Schein der Mittagssonne im Mai warfen die Befestigungsstäbe auf diesem Ladenschild ihre strengen diagonalen Schatten über die Fläche mit den auffälligen handgefertigten Holzbuchstaben. Diese interessante Zufälligkeit musste ich dann doch direkt mal fotografisch einfangen – hier arbeitete mal die Sonne als Designerin. 🤓 🔠 ☀️

19.05.2025

Das heutige typographische Bonbon ist vielleicht eher etwas für die älteren unter den Lesern. Nämlich die, die sich noch daran erinnern, dass zwischen 1970 und 1973 immer freitags um 18.35 Uhr im Vorabendprogramm des ZDF eine Sendereihe unter dem (heute kritischer zu betrachtenden) Titel »Dick & Doof« mit Stan Laurel und Oliver Hardy zu sehen war – und bis zu 16 Mio. Zuschauer pro Woche verzeichnen konnte! 



Das Besondere an der Aufbereitung des Filmmaterials war – neben dem teils abenteuerlichen Zusammenschnitt mehrerer unabhängig entstandener Filme zu einer neuen 25-minütigen »Story« und der schwungvollen Musikuntermalung von  Fred Strittmatter und Quirin Amper jr. – oft die »Ein-Mann-Synchronisation« durch den Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch, der mit großer Stimmenvielfalt und seinen eloquent-verschrobenen Off-Kommentartexten den Sketchen der beiden Komödianten eine ganz neue, sehr deutsche, aber auch höchst amüsante Facette verlieh.



Im Vorspann der Serie (die hier im Haushalt kürzlich auf DVD erstanden wurde) fiel mir gleich der kuriose Titelschriftzug auf, der mit seinen comic-artigen massiven Lettern und den schrägen Formideen (das »k«!) schon fast etwas Logo-artiges hat und dem man die frühen 1970er, wie ich finde, auch formal sehr schön ansieht. 



Mehr Infos zur Serie:


➡️ https://www.wunschliste.de/serie/dick-und-doof#lexikon_inhalt

28.04.2025

Das typographische Bonbon – wiederum aus meinem Urlaub im Moselland – zeigt einen »handgemalten« Wegweiser mit einer tatsächlichen Ortsangabe, die aber auch gleichzeitig als Aufforderung gelesen werden kann, bewusst einmal innezuhalten, sich dem täglichen Stakkato aus To-do-Listen, Doomscrolling, Social-Media-Beiträgen, Straßenlärm, Mediengewitter und anderen Stressfaktoren einfach mal für eine Weile zu entziehen. Raus an die frische Luft, in den Wald, über die Hügel, auf die Wiesen, bewusst auf-, ein- und auszuatmen, gemächlich zu flanieren oder forsch zu wandern, vielleicht Rad zu fahren – und an nichts zu denken, außer dem gerade präsenten Moment. Für eine Weile den Blick von Monitor und Display zu heben und weit »ins Land«, in die Landschaft zu schauen.



Hilft ungemein und entspannt kolossal. Ich hab’s ausprobiert. 🤓 🔠 ⛰️

22.11.2024

Geht man derzeit durch die Dörfer und Städte, trifft man allerorten emsige Schausteller, Handwerker und Lieferpersonal beim Aufbauen und Ausstatten der Buden für die diesjährigen Winter- und Weihnachtsmärkte. Etliche davon sind schon seit einer guten Woche geöffnet, andere warten pietätvoll noch das bevorstehende Totensonntagswochenende ab, ehe sie ihr saisonales Geschäft beginnen. Es wird gehämmert, geschraubt, installiert, Girlanden und Lichterketten werden aufgehängt, Leitungen verlegt und Beschilderungen angebracht.



Auch in der Hamburger Spitalerstraße, wo ich vorgestern vorbeikam, herrschte vergleichbares Treiben. An einer der Buden entdeckte ich das typographische Fundstück für diese Woche: Der Betreiber dieser Gebäckbude »dremelte« den Schriftzug für sein zentrales Warenangebot mit einer fünf- bis sechsfachen gefrästen Kontur um die Buchstaben in das Holzschild. Die Umrisse wirken handgeführt und sie umgeben die Schrift nicht nur nach außen, sondern dringen auch in die Innenform der einzelnen Zeichen ein, rauhen die Konturen auf und runden die Ecken ab. Manch empfindsamen Schriftliebhaber mag es schaudern bei dieser Art der Umsetzung, jedoch eines ist festzustellen: der Schrift ihre Identität und Erkennbarkeit nehmen konnte die ungezügelte Fräse nicht – es ist eine »Helvetica Black«. 



Eine gute Schrift kann eben einiges vertragen … 😉 🤓 🔠 



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