Wohl jeder hat im Hinblick auf zeitgenössische Konsumgepflogenheiten und Produktlebenszyklen schon mal die Begriffe »Upcycling« und »geplante Obsoleszenz« gehört. Letzteres bezieht sich zwar meist auf technische Geräte und bezeichnet deren vorprogrammierten Verschleiß, aber auch in der Modewelt ist dieses Prinzip schon länger anzutreffen:
»Ein weiteres frühes Beispiel für eine künstliche Veralterung ist die hauchdünne und extrem reißfeste Feinstrumpfhose aus dem damaligen Wundergewebe Nylon. DuPont brachte im Jahre 1940 die ersten Nylonstrümpfe auf den Markt. Als schließlich jede Frau Nylonstrümpfe ihr eigen nennen durfte, brachen die Umsätze rapide ein. Daher mussten die Entwickler eine noch dünnere Strumpfhose mit begrenzter Haltbarkeit konzipieren.«
BSZ (Bayerische Staatszeitung)
Es stellt sich ohnehin die Frage, ob nicht Mode an sich ein Konzept ist, das die vorzeitige »Entsorgung« an sich noch tadelloser Kleidungsstücke forciert – denn wer, der es sich leisten kann, läuft schon gerne in einem einst trendgerechten Outfit aus dem letzten oder vorletzten Jahr umher, das inzwischen als überholt oder unmodern gilt? Nicht ohne Grund türmen sich auf katastrophal schadstoffbelasteten Müllhalden rund um den Globus groteske Mengen aus Fabrikationsresten und zu Müll deklarierten Klamotten unserer mehr als fragwürdigen Fast-Fashion-Kultur.
Das typographische Montagsbonbon von heute belegt, dass es schon vor Jahrzehnten Gewerbetreibende gab, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Lebenszeit von Kleidungsstücken zu verlängern und damit quasi »Upcycling« zu betreiben, noch ehe dieses Wort geboren wurde. Entdeckt habe ich es im November 2018 auf einer Städtereise nach Göttingen. Zur Gründung und dem geschäftlichen Schicksal des beworbenen Betriebes – von dem nur noch diese Beschilderung verblieben ist – konnte ich leider keine näheren Details ermitteln.
Das Schild ist definitiv von Hand gefertigt, was man aus seinem zu vermutenden Alter sowie den Abweichungen bei mehrfach vorkommenden Buchstaben schlussfolgern kann. Die oberen vier Zeilen mit dem Dienstleistungsangebot passen für mein Auge stimmig zu den letzten beiden Zeilen mit Name und Stockwerk des Ladenbesitzers. Wie so oft habe ich im Spektrum der aktuell käuflichen Schriften nach möglichst ähnlichen Vertretern gesucht. Meine Favoriten für die Schreibschrift sind die »Koozie Script« von Dathan Boardman und Conrad Garner (Good Gravy Type Co.) und die »Brillian Greek Condensed Light« von Dusko Joksimovic (Fontex). Bei der ersten sind z.B. das U, r und F ähnlicher, bei der zweiten das b und das e. Erste Wahl für die gebrochene Schrift unten ist die »Thannhaeuser Fraktur«, die bis auf das T ziemlich nah an die Vorlage herankommt (siehe unteres Bild). Insbesondere der Querbalken im M und das konkave rechte »Bein« des M sind hier besondere Formmerkmale.
Und während ich diesen Beitrag verfasse, bin ich noch einmal in den schönen und geschichtsträchtigen Städten Freiburg und Basel zu Gast und bin sicher, dass ich auch von dort wieder reichlich Motive zu meinem Herzensthema mitbringen werde. 🤓 🔠 🎩 👒

