2021 präsentierte der Satiriker Jan Böhmermann in seinem Magazin »ZDF Magazin Royale« ein Musikvideo ⬇️ mit dem Titel »Wieso hört der Fahrradweg einfach hier auf?«. Genau dieser Songtitel kam mir in den Sinn, als ich vor einigen Tagen in Hamburg die Fußgängertreppe zwischen der Straße »Palmaille« und dem Altonaer Fischmarkt hinabging und an der Fassade des am Weg liegenden Gasthauses »Zum Elbblick« eine Gedenktafel mit einer für mich sonderbar formulierten Inschrift las. »BAUSTEINE WURDEN AUS SPARGROSCHEN DER HAMBURGER SPARCASSE VON 1827« stand dort – und ich dachte: »Und – was wurden die? Gekauft? Gesponsort? Eingeschmolzen? Finanziert?« Der Satz klang für mich merkwürdig abgeschnitten bzw. unvollständig. Daraufhin fotografierte ich diese Tafel – das heutige typographische Fundstück – und recherchierte dem eigentümlichen Text hinterher.

Die benannte »Hamburger Sparcasse von 1827«, so fand ich heraus, wurde im benannten Jahr und auf Initiative einem Hamburger Senators mit dem hinreißenden Namen Dr. Amandus Augustus Abendroth (1767–1842) von Hamburger Bürgern gegründet. Sie betätigte sich, wie ebenfalls zu lesen ist, unter anderem an der Bereitstellung von Geldern und Krediten zur Finanzierung von Wohnungsbauprojekten in der Hansestadt. Dieses Kapital wurden offenbar auch – zumindest teilweise – über durch den Verkauf sogenannter »Bausteine« sowie aus Lotterie-Erlösen erwirtschaftet. Wann das Gebäude des Gasthofes errichtet wurde, konnte ich zwar nicht herausfinden, wohl aber, dass sich in Hamburg und anderen Städten seit etwa Ende des 19. Jahrhunderts und bis weit in die 1980er-Jahre hinein sogenannte »(Kneipen-)Sparklubs« großer Beliebtheit erfreuten. An vielen Orten der Zusammenkunft, teils in Wirtshäusern, manchmal auch an Arbeitsstätten, brachten die Mitglieder sogenannte »Sparkästen« an, die von den Geldinstituten bereitgestellt wurden und in die jeder Einzelne – mehr oder weniger beschwipst und/oder großzügig – Geldbeträge in den Schlitz seines persönlichen Spar-Faches einwerfen konnte. Sparklubs vereinbarten einen wöchentlichen Mindest-Sparbetrag, viele Klubs verhängten sogar Strafen über säumige Sparer. Auf einem historischen Foto von 1962 ist zufällig ein solcher Sparkasten genau der obengenannten »Hamburger Sparcasse von 1827« in einer Kneipe zu sehen.

Die Sparkästen wurden gewissenhaft wöchentlich geleert, die Beträge jedes einzelnen Sparers sowie die Strafzahlungen auf einer offiziellen »Sparkarte« notiert und die Gelder anschließend bei der jeweiligen Bank eingezahlt. Diese Beträge – und hier führen meine Schlussfolgerungen wieder zurück zu der Tafel des heutigen typographischen Fundstücks – wurden üblicherweise als »Spargroschen« bezeichnet. Ich nehme also an*, dass ein Teil der aus den Gewinnen der Bank bereitgestellten Baukosten für das Gasthof-Gebäude (auch) durch das ersparte Kapital solcher Sparklubs zusammengekommen sein könnte und die Hinweistafel dies bekunden und daran erinnern sollte.

(* Sollte eine[r] der hier Mitlesenden tiefere oder anderweitige Kenntnisse zu dem Sachverhalt haben, freue ich mich natürlich über Ergänzungen und/oder Korrekturen!)

»… von den Anfängen an waren die Sparkassen in gleich zweifacher Hinsicht dem Gemeinwohl verpflichtet. Zum einen konnten sie auf lokaler Ebene Kredite für wirtschaftliche und öffentliche Unternehmungen bereitstellen, zum anderen waren sie laut Satzung gehalten, ihre Gewinne zum Wohle der Allgemeinheit in Wohltätigkeit und Kulturförderung zu investieren.«

stern.de

Doch zurück zu der sonderbaren Formulierung. An einem ganz anderen Ort, auf einer schwedischen (!) Website, fand ich dann noch ein zweites, emailliertes Schild derselben Sparkasse – und auf diesem wurde der sinngleiche Satz in einer abweichenden Wortfolge formuliert. Dort steht (übrigens ebenfalls in einer sehr schönen Schriftart): »Spargroschen bei der Hamburger Sparcasse von 1827 wurden Bausteine«.

Aha! Am Ende der aus heutiger Sicht etwas yodahaft klingenden Inschrift »meiner« Gedenktafel fehlte also gar nichts! Statt »BAUSTEINE WURDEN AUS SPARGROSCHEN DER HAMBURGER SPARCASSE VON 1827« könnte man ihn auch lesen als »Aus Spargroschen der Hamburger Sparcasse von 1827 wurden (die) Bausteine (dieses Gebäudes)«. Nun wurde mir die Bedeutung klar.

Die Schriftart auf der Tafel konnte ich leider nicht bestimmen, sie lehnt sich mit ihrem S, das wie ein gespiegeltes Z aussieht, an manche Art-déco-Schriften wie etwa »Koloss« an, die hier kürzlich bereits an einer Apothekenfassade identifiziert wurde, aber die unregelmäßigen Lettern auf der Tafel lassen vermuten, dass der Text darauf eigens und von Hand gestaltet wurde.

Ich liebe die spannenden Zeitreisen, auf die mich meine typographischen Fundstücke oft mitnehmen! 😅 🤓 🔠

Link zu einem Artikel inkl. ausführlicher Bilderstrecke bei spiegel.de über (Hamburger Kneipen-)Sparklubs:
➡️ https://www.spiegel.de/geschichte/kneipen-sparclub-fuenf-ins-toepfchen-50-ins-kroepfchen-a-1065189.html

Artikel bei stern.de zur Geschichte der Sparkassen in Hamburg:
➡️ https://www.stern.de/lokal/hamburg/1778-wurde-in-hamburg-die-erste-sparkasse-der-welt-gegruendet-8543120.html

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